Charakter-Entwicklung im Roman

Charaktere entwickeln für den Roman
Welcher Charakter ist der richtige? (Bild: Dall-E)

Ich habe einmal einen Roman geschrieben, genauer gesagt, sogar mehrere. Das ist lange her. Damals habe ich sie nicht veröffentlicht, und wenn ich mir die Stories heute anschaue, würde ich es ganz anders machen. Aber was ich damals durch das Schreiben erlebt habe, das war der Weg des Aufbaus verschiedener Charaktere. Meine damalige Schreibphase war ziemlich lang, die Charaktere festigten sich mehr und mehr, und irgendwann lebte ich mit ihnen. Ich dachte an sie, wenn ich in der Werbeagentur Mittagspause machte, oder beim Einkaufen – natürlich immer mit der Story verbunden. Mit Abschluss des ersten Romans war da eine Leere, weil ich mich plötzlich nicht mehr mit ihnen beschäftigte. Ich vermisste also meine eigenen Romanfiguren. Wenn ich heute als Buchcoverdesigner mit Autoren im Rahmen des jeweiligen Projekts über deren Buchinhalte rede, fühle ich mich manchmal an diese Zeit erinnert.

Wenn Autoren ihre Charaktere ins Herz schließen, ist es gut. Noch besser ist es, wenn dass auch die Leser tun.

Die Figuren eines Romans sind das Herzstück der Geschichte. Egal, ob Du eine spannende Handlung, eine ausgeklügelte Welt oder einen besonderen Erzählstil hast – ohne glaubwürdige, lebendige Charaktere bleibt das Ganze blass. Doch wie entwickelt man solche Figuren eigentlich? Die Antwort: Es gibt nicht den einen richtigen Weg. Vielmehr existieren verschiedene Methoden, die je nach Arbeitsweise, Genre oder Projekt besser oder schlechter funktionieren. Hier ist eine Auswahl bewährter Ansätze – vielleicht ist ja der passende für Dich dabei.

Der klassische Charakterbogen

Eine der bekanntesten Methoden ist der klassische Charakterbogen. Dabei füllst Du für jede Figur ein Formular mit biografischen Daten, Persönlichkeitsmerkmalen, Vorlieben, Abneigungen und vielem mehr aus. Typische Punkte:

•   Name, Alter, Herkunft
•   Äußeres Erscheinungsbild
•   Stärken und Schwächen
•   Lebensziele und Motivationen
•   Ängste und Traumata
•   Beziehungen zu anderen Figuren

Diese Methode eignet sich gut, wenn Du strukturiert arbeitest und gern im Vorfeld Klarheit über Deine Charaktere hast. Ein ausgefüllter Bogen kann später beim Schreiben helfen, konsistent zu bleiben und logische Entwicklungen zu gestalten. Der Nachteil: Manchmal wirken Figuren dadurch zu “konstruiert” und weniger lebendig.

Die Figur aus der Szene heraus entwickeln

Manche Autoren bevorzugen es, die Charaktere organisch während des Schreibens zu entdecken. Dabei lernst Du die Figuren kennen, indem Du sie in Szenen steckst und beobachtest, wie sie sich verhalten. Ihre Persönlichkeit offenbart sich durch Handlung und Dialog. Das ist besonders dann hilfreich, wenn Du intuitiv arbeitest und es magst, selbst überrascht zu werden. Vielleicht stellst Du beim Schreiben fest, dass eine Figur ganz anders reagiert, als Du geplant hattest – und das ist oft ein gutes Zeichen. Die Gefahr bei dieser Methode: Die Figuren können uneinheitlich wirken, wenn man sich nicht ab und zu bewusst mit ihrer inneren Logik auseinandersetzt.

Charaktere für den Roman
Charaktere – aber welche? (Bild: Dall-E)

Fragen an die Figur stellen

Ein weiterer Weg, Deine Charaktere besser kennenzulernen, ist das Interview-Prinzip. Dabei stellst Du der Figur Fragen – entweder schriftlich oder im Kopf – und lässt sie „selbst“ antworten. Fragen könnten sein:

•   Was war der schlimmste Moment in Deinem Leben?
•   Was würdest Du tun, wenn Du einen Tag lang unsichtbar wärst?
•   Welche Lüge erzählst Du Dir selbst immer wieder?
•   Was glaubst Du, wie andere Dich sehen – und stimmt das?

Je nach Antwort kann sich das Bild der Figur stark vertiefen. Diese Methode bringt oft interessante Facetten zum Vorschein, an die du vorher nicht gedacht hast, und hilft, den inneren Kern zu greifen.

Archetypen als Ausgangspunkt

Manchmal ist es hilfreich, mit einem Archetyp zu starten: der Rebell, der Mentor, der Trickser, die tragische Heldin usw. Diese Grundfiguren kennt man aus Mythen, Geschichten und der Popkultur. Sie können als stabile Grundlage dienen, auf die du später individuelle Details aufbaust.

Wichtig ist dabei, dass der Archetyp nur der Anfang ist. Ein glaubwürdiger Charakter sollte nicht wie aus dem Lehrbuch wirken, sondern seine eigenen Widersprüche, Eigenheiten und Entwicklungen haben. Der Rebell kann plötzlich zögerlich werden, der Mentor einen dunklen Hintergrund haben – solche Brüche machen Figuren interessant.

Die Figur als Spiegel der Handlung

Gerade in genreorientierten Romanen (Krimi, Thriller, Fantasy) ist es sinnvoll, die Figuren so zu gestalten, dass sie zur Geschichte passen – oder ihr sogar die Struktur geben. Überlege: Welche Figur muss es sein, damit die Handlung überhaupt passieren kann?

Stell dir einen Roman vor, in dem es um eine Verschwörung in einem Konzern geht. Ein Ermittler, der selbst Ambitionen auf eine Führungsposition hat, bringt automatisch mehr Spannung ins Spiel als jemand, der völlig neutral ist. Oder: In einer Geschichte über Rache funktioniert eine Figur, die zwischen Wut und Gerechtigkeit schwankt, besser als eine, die sofort weiß, was zu tun ist.

Hier entwickeln sich Charaktere oft aus der Handlung heraus – was sie glaubwürdig macht, ist ihr innerer Konflikt in Bezug auf das Geschehen.

Reale Vorbilder – mit Vorsicht

Natürlich lassen sich auch reale Menschen als Inspiration nutzen. Vielleicht basiert deine Figur lose auf einem Familienmitglied, einer berühmten Persönlichkeit oder jemandem aus dem Freundeskreis. Das kann helfen, mehr Tiefe zu erzeugen – schließlich hat die Person bereits Eigenheiten, Sprache, Verhalten.

Aber Achtung: Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt. Zu nahe an der Realität zu bleiben, kann problematisch werden – sowohl rechtlich als auch kreativ. Ideal ist es, einzelne Elemente zu übernehmen, aber daraus etwas Neues zu formen. Eine Figur sollte immer ein eigenständiges Konstrukt sein.

Was ist der richtige Weg?

Wie du siehst: Es gibt viele Wege, Charaktere zu entwickeln – und keiner davon ist der einzig wahre. Entscheidend ist, dass du eine Methode findest, die zu dir, deinem Stil und deinem Projekt passt. Manche entwickeln Charaktere monatelang, andere entdecken sie während des Schreibens. Manche brauchen Listen und Tabellen, andere einen Kaffee, ein Notizbuch und ein bisschen Zeit zum Nachdenken.

Vielleicht probierst du mehrere Ansätze aus. Vielleicht passt Methode A beim nächsten Buch nicht mehr, aber Methode B funktioniert plötzlich wunderbar. Das ist normal. Figuren sind keine Maschinen – und ihre Entwicklung ist oft genauso lebendig und unvorhersehbar wie sie selbst.

Am Ende zählt, dass deine Leser sie ernst nehmen. Dass sie mitfiebern, mitleiden, lachen, wütend werden – kurz: dass sie das Gefühl haben, jemand Echtem begegnet zu sein. Wie du dahin kommst, ist deine ganz persönliche Reise.

Categories: Schreiben

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